4 - Geschichten, die das Leben schreibt 
Helga Lorenz erinnert sich an eine Begebenheit aus der Kindheit:

Ein Sommertag

(zwischen Sense und Mähdrescher)


Das   „Oho, das war ein Gewitterchen, sagte Heiner, kratzte sich hinterm Ohr und steckte vorsichtig seinen Kopf hinaus. Für uns Geschwister gab es aber keinen Grund zum Fürchten. Wir hielten uns aneinander fest. Wir hatten eine ordentliche Unterkunft und davor die große, starke Erna. Nun ließ der Regen nach. Der Himmel klarte auf. Die blauschwarzen, regenschweren Wolken verzogen sich. Und in der Ferne tauchten die ersten weißen Haufenwolken auf. Klotzschens Erna, die hier als Großmagd eine bestimmte Position innehatte, holte tief Luft und stand auf. Auch wir Kinder krochen aus unserer Kornpuppe und atmeten tief die gereinigte Luft ein. Meine Mutter sah ich und die Bauersfrau und all die anderen Feldarbeiter wie sie aus ihren Kornpuppen kamen und an ihre Plätze gingen. Der Bauer war wohl die ganze Zeit bei den Pferden geblieben und hatte sie schon allein durch seine Anwesenheit beruhigt. Jetzt war die Haumaschine sofort einsatzbereit. Im Lesebuch fanden wir später das Wort Mähmaschine. Belustigt riefen wir: „mäh, mäh“. Bei uns wurde das Korn gehauen und nicht gemäht. Später lernte ich, dass das Getreide, das hier in der Lötzschner Gegend vorwiegend angebaut wurde, Roggen heißt. Der sandige Boden hier war für den Roggenanbau bestens geeignet.
Bauer Jahn fasste die Zügel seiner beiden Braunen. Mit „Hühe!“ und „Hudde! Hudde rum!“ dirigierte er die Haumaschine an der einen Flanke des Kornfeldes hinauf und an der anderen wieder zurück. Dabei schnitt das Messer der Maschine einen breiten Streifen des Getreides ab. Wenn die Pferde vorbei waren, griff jede der Frauen zuerst nach einem dünnen Bündel Stroh. Das wurde gedreht. Dann wurde dieses Strohseil um ein dickeres Bündel geschlungen und verknotet. So war dann eine Garbe entstanden. Auch unsere Mutter band Garben – flink eine nach der anderen. Denn bald kam der Bauer mit seinen Pferden und wollte weiter. Unsere Mutter war Verkäuferin und die Feldarbeit nicht gewöhnt. Ihr Rücken schmerzte fürchterlich. Doch sie biss die Zähne zusammen.
Die Garben, die unsere Mutter gebunden hatte, trug Heiner zu Klotzschens Erna. Ich half ein wenig mit. Unser jüngerer Bruder Siggi war dazu noch zu schwach. Es war schon gut, wenn er mit aufs Feld genommen werden konnte. Kindergärten gab es nicht. Auch die anderen jüngeren Helfer schleppten Garben herbei. Erna und andere Mägde setzten die Garben zu Kornpuppen auf. Das war fast eine Kunst. Eine Garbe kommt in die Mitte, eine von links, eine von rechts, eine von vorn und eine von hinten. Weizen- oder Haferpuppen werden anders aufgesetzt. Manchmal passierte es, dass der Wind hinein fuhr und alle Kornpuppen umwarf, reihenweise. Dann mussten sie wieder neu aufgestellt werden. Denn nur so konnte das Getreide trocknen. Alle hofften, dass es nun in den nächsten Tagen nicht regnete und dass die Sonne weiter so heftig scheinen würde bis das Thermometer 30° anzeigte. Nur trockenes Getreide darf in die Scheune.
Das Einfahren war eine besondere Kunst. Klotzschens Erna habe ich bewundert. Sie hatte Erfahrung. Die Knechte reichten die Garben mit langen Gabeln hinauf auf den Leiterwagen. Die Leitern des Wagens waren nicht sehr hoch. Aber Erna schichtete immer weiter, immer höher. Das machte sie so geschickt, dass der Stapel außen fast glatte Wände hatte. Es wäre eine Schande gewesen, wenn auf dem Heimweg, Garben herunter gefallen wären. Mein Traum war es, einmal da hoch oben mit Erna nach Hause zu fahren. Zu Hause wurden die Garben in die Scheune gebanselt. Dort lagen sie bis eines Tages im Spätherbst oder Winter die Dreschmaschine ins Dorf kam. Doch das wäre schon wieder eine andere Geschichte.
Waren die Felder abgeräumt, ging unsere Mutter mit uns Kindern Ähren lesen. Jeder trug einen großen Leinenbeutel. Wir sammelten die Ähren auf, die abgebrochen oder sonst wie heruntergefallen waren. Sie bildeten die Grundlage für unsere morgendliche Schrotsuppe. Natürlich nicht mit Strohrestern, Spelzen und Grannen. Bis dahin war erst noch viel Arbeit nötig.

 
H. Lorenz, Oktober 2016