2 - Geschichten, die das Leben schreibt 
Reinhardt Grobleben notierte folgende Erinnerung:

Auch ich war ein Flüchtling

 

Flüchtlingsströme…….
Flüchtlingsnöte….
Flüchtlingshilfen…
Vernimmt man im Jahre 2015 aus den Medien



Viel Zeit blieb nicht. Wir mussten raus. Auf den langen Marsch, der Flucht bedeutete. Von einem Tag zum anderen. Wir hatten keine Zeitung gelesen, es aus keinem Radio vernommen.
Beides gab es nicht. Aber Gerüchte genug, schlimme, immer schlimmere.
Wir dachten, der Krieg sei zu Ende und der Frühling würde es besser werden lassen.
Raus. Ohne Vorahnung. Und schnell, schnell.
Das war auch ein Teil des großen Krieges und seiner ganzen Erbärmlichkeit.
Erschrocken waren wir und verunsichert.
Würde jetzt die Welt zusammenbrechen? Angst.
Auf jede Frage keine Antwort.
Wo sollten wir hin?
Unsere Mutter hatte nur den kleinen Handwagen ziehen können auf den langen staubigen Straßen und Wegen. Fast nichts blieb uns. Nur die Ungewissheit.
Wir waren Kinder von sieben und neun Jahren. Unser Leben sollte beginnen. Aber wie? Und wo?
Ihre körperbehinderte Schwiegermutter und meine kleine Schwester teilten sich das kantige Plätzchen auf dem Wagen. Ich durfte laufen, laufen, laufen…
Vorbei an zerfetztem Kriegsgerät. Menschliche Leichen an den Wegesrändern. Tote Pferde und Kühe stanken noch mehr in der glühenden Mittagssonne der letzten Junitage. So große schwarze Fliegen, grün- blau schillernd sah ich vorher noch nie.
Nur wenige Bäume beschatteten die Strecke. Selten sah man schadlos gebliebene Häuser.
Wohin am Abend? Woher eine Kanne Wasser nehmen? Aber Durst.
Wer je das Gruseln lernen wollte, musste sich mit uns abends ins halbfeuchte Stroh legen in einem dunklen und stinkenden Pferdestall.
Vorwärts. Immer vorwärts in Richtung Westen. Ausgedörrte, nicht bestellte Felder so weit man sehen konnte.
Die Oder lag schon hinter uns. Und die Seelower Höhen. Da waren wir nur noch drei. Die Oma fehlte und Mutti weinte bitterlich in der Nacht.
Tausendfaches Flüchtlingselend.
Am Tag ging die Mutter immer wieder um Brot zu betteln im Dorf, das grade am Weg lag.
Beeskow. Storkow. Bindow. Friedersdorf.
Wer hatte etwas zu verschenken?
Der Hunger warf uns alle Drei buchstäblich auf den Boden.
Im Krankenhaus las ich dann „Typhus“ auf der Tafel am unteren Bettende. Und die Fieberkurve zuckte hoch und runter und wieder hoch. Es war Juli geworden. Wir drei waren nicht die einzigen Flüchtlinge im Krankenhaus.
Als es mir langsam besser ging, kämmte ich nun selbst die Läuse aus meinem Haar auf die weiße Sitzfläche des Stuhles im Krankenzimmer. So hatte ich jeden Tag etwas zu tun.
Da sollte ich eines Tages Platz machen für andere Kranke. Ich war genesen, hieß es.
Meine Mutter noch längst nicht. Die Ärzte guckten so vielsagend als ich nach Mutti fragte. Sie zogen die Augenbrauen bedenklich hoch, sagten aber lieber nichts.
Es gab damals keine Verordnungen zur Unterbringung von Flüchtlingen, keine Zuwendungen per staatlich geregelter Fonds nach langen parteistrategischen Debatten.
Aber Menschlichkeit gab es.
Ganz schlicht und ergreifend Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Ich habe es nicht vergessen bis heute.
Der Krankenpfleger Dittmann aus dem Nachbarort nahm mich mit auf dem Gepäckständer seines Fahrrades nach Hause in seine Familie. „Der Junge muss doch irgendwo hin!“
Ich aß bei ihnen am Tisch und schlief bei ihnen in der Wohnung. So kuschelig wie seit vielen Wochen nicht mehr.
Und er hatte den Tierarzt Tiede gefragt im Dorf, denn meine Schwester, das kleine abgemagerte Flüchtlingskind, brauchte auch bald Obdach. Die Arztfamilie nahm sie auf. Sie aß und trank dort und bekam ein Bett.
Nur die Sommerklamotten am Leib. Es war nichts weiter vorhanden, aber die Sonne stand inzwischen nicht mehr so hoch am Himmel.
Wir sahen uns nicht und nicht die Mutti, die immer noch fiebernd sich sorgte um uns.
Was sollte werden?
Im Oktober waren wir wieder zusammen. Der alte Handwagen mit unseren wenigen Habseligkeiten war nun auch noch weg. Nichts war uns geblieben. Nichts.
Der Bürgermeister in Kablow hatte sicher keine Order wie mit Flüchtlingen umzugehen sei. Es gab keine Demonstrationen oder andere Bekundungen wie man Flüchtlingen helfen sollte, die verunsichert sind und hilflos in fremder Umgebung.
Aber er war einfach ein Mensch, der sich sorgte. Er gab uns eine leerstehende Wohnung.
Mit Möbeln drin und Wäsche in den Schränken. Im miefigen Eisschrank stank ein Stück harter, völlig vertrockneter Käse. Nicht lange. Da hatten wir ihn aufgeknabbert. Eine Köstlichkeit muss es wohl gewesen sein, wenn ich heute noch nach siebzig Jahren daran denke.
In unserer Umgebung im Dorf gab es keine wohlhabenden Familien. Aber immer wieder welche, die uns gaben von dem, was sie eigentlich für sich gedacht hatten. Ziegenmilch zum Beispiel und Maulbeeren von den Hecken am Gartenrand.
Vergangenheit. Unauslöschbar in meiner Erinnerung.
Jetzt suchen wieder Menschen Geborgenheit in fremden Landen.
Und im so reichen Deutschland auch.


R. Grobleben, März 2015

E-Mail: groreiner00[et]hotmail.com