Auch ich war ein Flüchtling
Flüchtlingsströme……. Flüchtlingsnöte….
Flüchtlingshilfen… Vernimmt man im Jahre 2015 aus den
Medien
Viel
Zeit blieb nicht. Wir mussten raus. Auf den langen
Marsch, der Flucht bedeutete. Von einem Tag zum anderen.
Wir hatten keine Zeitung gelesen, es aus keinem Radio
vernommen. Beides gab es nicht. Aber Gerüchte genug,
schlimme, immer schlimmere. Wir dachten, der Krieg
sei zu Ende und der Frühling würde es besser werden
lassen. Raus. Ohne Vorahnung. Und schnell, schnell.
Das war auch ein Teil des großen Krieges und seiner
ganzen Erbärmlichkeit. Erschrocken waren wir und
verunsichert. Würde jetzt die Welt zusammenbrechen?
Angst. Auf jede Frage keine Antwort. Wo sollten
wir hin? Unsere Mutter hatte nur den kleinen
Handwagen ziehen können auf den langen staubigen Straßen
und Wegen. Fast nichts blieb uns. Nur die Ungewissheit.
Wir waren Kinder von sieben und neun Jahren. Unser Leben
sollte beginnen. Aber wie? Und wo? Ihre
körperbehinderte Schwiegermutter und meine kleine
Schwester teilten sich das kantige Plätzchen auf dem
Wagen. Ich durfte laufen, laufen, laufen… Vorbei an
zerfetztem Kriegsgerät. Menschliche Leichen an den
Wegesrändern. Tote Pferde und Kühe stanken noch mehr in
der glühenden Mittagssonne der letzten Junitage. So
große schwarze Fliegen, grün- blau schillernd sah ich
vorher noch nie. Nur wenige Bäume beschatteten die
Strecke. Selten sah man schadlos gebliebene Häuser.
Wohin am Abend? Woher eine Kanne Wasser nehmen? Aber
Durst. Wer je das Gruseln lernen wollte, musste sich
mit uns abends ins halbfeuchte Stroh legen in einem
dunklen und stinkenden Pferdestall. Vorwärts. Immer
vorwärts in Richtung Westen. Ausgedörrte, nicht
bestellte Felder so weit man sehen konnte. Die Oder
lag schon hinter uns. Und die Seelower Höhen. Da waren
wir nur noch drei. Die Oma fehlte und Mutti weinte
bitterlich in der Nacht. Tausendfaches
Flüchtlingselend. Am Tag ging die Mutter immer wieder
um Brot zu betteln im Dorf, das grade am Weg lag.
Beeskow. Storkow. Bindow. Friedersdorf. Wer hatte
etwas zu verschenken? Der Hunger warf uns alle Drei
buchstäblich auf den Boden. Im Krankenhaus las ich
dann „Typhus“ auf der Tafel am unteren Bettende. Und die
Fieberkurve zuckte hoch und runter und wieder hoch. Es
war Juli geworden. Wir drei waren nicht die einzigen
Flüchtlinge im Krankenhaus. Als es mir langsam
besser ging, kämmte ich nun selbst die Läuse aus meinem
Haar auf die weiße Sitzfläche des Stuhles im
Krankenzimmer. So hatte ich jeden Tag etwas zu tun.
Da sollte ich eines Tages Platz machen für andere
Kranke. Ich war genesen, hieß es. Meine Mutter noch
längst nicht. Die Ärzte guckten so vielsagend als ich
nach Mutti fragte. Sie zogen die Augenbrauen bedenklich
hoch, sagten aber lieber nichts. Es gab damals keine
Verordnungen zur Unterbringung von Flüchtlingen, keine
Zuwendungen per staatlich geregelter Fonds nach langen
parteistrategischen Debatten. Aber Menschlichkeit gab
es. Ganz schlicht und ergreifend Menschlichkeit und
Hilfsbereitschaft. Ich habe es nicht vergessen bis
heute. Der Krankenpfleger Dittmann aus dem
Nachbarort nahm mich mit auf dem Gepäckständer seines
Fahrrades nach Hause in seine Familie. „Der Junge muss
doch irgendwo hin!“ Ich aß bei ihnen am Tisch und
schlief bei ihnen in der Wohnung. So kuschelig wie seit
vielen Wochen nicht mehr. Und er hatte den Tierarzt
Tiede gefragt im Dorf, denn meine Schwester, das kleine
abgemagerte Flüchtlingskind, brauchte auch bald Obdach.
Die Arztfamilie nahm sie auf. Sie aß und trank dort und
bekam ein Bett. Nur die Sommerklamotten am Leib. Es
war nichts weiter vorhanden, aber die Sonne stand
inzwischen nicht mehr so hoch am Himmel. Wir sahen
uns nicht und nicht die Mutti, die immer noch fiebernd
sich sorgte um uns. Was sollte werden? Im Oktober
waren wir wieder zusammen. Der alte Handwagen mit
unseren wenigen Habseligkeiten war nun auch noch weg.
Nichts war uns geblieben. Nichts. Der Bürgermeister
in Kablow hatte sicher keine Order wie mit Flüchtlingen
umzugehen sei. Es gab keine Demonstrationen oder andere
Bekundungen wie man Flüchtlingen helfen sollte, die
verunsichert sind und hilflos in fremder Umgebung.
Aber er war einfach ein Mensch, der sich sorgte. Er gab
uns eine leerstehende Wohnung. Mit Möbeln drin und
Wäsche in den Schränken. Im miefigen Eisschrank stank
ein Stück harter, völlig vertrockneter Käse. Nicht
lange. Da hatten wir ihn aufgeknabbert. Eine
Köstlichkeit muss es wohl gewesen sein, wenn ich heute
noch nach siebzig Jahren daran denke. In unserer
Umgebung im Dorf gab es keine wohlhabenden Familien.
Aber immer wieder welche, die uns gaben von dem, was sie
eigentlich für sich gedacht hatten. Ziegenmilch zum
Beispiel und Maulbeeren von den Hecken am Gartenrand.
Vergangenheit. Unauslöschbar in meiner Erinnerung.
Jetzt suchen wieder Menschen Geborgenheit in fremden
Landen. Und im so reichen Deutschland auch.
R. Grobleben, März 2015
E-Mail: groreiner00[et]hotmail.com
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